Dieser Text entstand aus einer Verschränkung der Stimmen beider Autor:innen.
Unsere ansonsten getrennt voneinander definierten Körper verschmelzen zu einem und erzählen Geschichten, in denen wir gemeinsam Verantwortung übernehmen.
Anstatt singuläre Narrative von Diagnosen weiter zu erzählen, möchten wir in einer Sprache sprechen, in der die individuelle Erfahrung als kollektiv begriffen und behandelt wird.
Das Kollektiv ist für uns sicheres Versteck und Plattform zugleich.
Habe ich dir schon mal erzählt, dass ich 3 Wochen zu früh geboren wurde, weil die Ultraschallbilder so aussahen, als hätte ich kranke Nieren und müsste operiert werden?
Sie haben meiner Mutter Medikamente gegeben, um die Geburt einzuleiten.
Ich wurde geboren und die Ärzte (in ihren Erzählungen sind es nur Männer) sind mit mir verschwunden, um herauszufinden, ob ich lebe oder sterbe, ob ich schwer behindert bin oder nicht.
Meine Mutter hat die ganze Nacht gewartet, ist durch die Krankenhausflure gegeistert und hat mich gesucht. Sie hatten ihr nichts gesagt.
Habe ich dir schon mal von den Sternen in meinem Kopf erzählt?
Alles begann vor 10 Monaten. Ich lag auf einer Liege und trug Kopfhörer um die Piepgeräusche des mir bis dahin unbekannten Gerätes nicht zu hören.
Alles wirkte steril. Langsam wurde ich in ein röhrenförmiges Gerät geschoben.
Ich schloss die Augen, atmete tief ein und aus und versuchte mich in der Enge nicht zu bewegen.
Mein Körper resonierte mit der Röhre und wurde in viele Schwarz-Weiß-Bilder verrechnet. Auf einem Bildschirm wurde mein Körperinneres Schicht für Schicht sichtbar gemacht.
Wochen später saß ich vor einem Bildschirm. Dahinter eine Ärztin in weiß. Die Strukturen meines Hirns hätten sich verändert. Weitere Narben seien entstanden.
Sie zeigte auf ein Schwarz-Weiß-Bild. Das sei ich. Ich stelle mir die endlosen Gänge in der Nacht vor. Gänge und Türen und Verknüpfungen wie in einem riesigen Gehirn, in dem Figuren wie Gedanken hin und her huschen.
Ich schwimme in einem Netzwerk aus maschinellen, institutionellen und ideologischen Akteur:innen. Ich fühle mich fragil.
Ich befinde mich in einer Dreiecksbeziehung: das MRT, die Neurologin und ich.
Eine Beziehung aus menschlichen und nichtmenschlichen Akteur:innen.
Niemand besitzt volle Handlungsmacht. Auch wenn es sich manchmal anders anfühlt. Wir sind miteinander verbunden und jede Bewegung der einen verursacht eine Schwingung der anderen. Ich schwimme in einem Netzwerk.
Lange Zeit musste ich zu Ultraschalluntersuchungen als Kind.
Ich erinnere mich an dieses warme, klebrige Gelee auf meinem Bauch und das schwarz-weiße Ultraschallbild, das mir nie etwas gesagt hat, aber ihnen genug gezeigt hat, um zu wissen, dass meine Organe tun, was von ihnen erwartet wird. Ein Flimmern in meinem Bauch, schwarze und weiße Flächen.
Der Ultraschallraum war dunkel und warm und ich mochte das Gefühl von dem Gel, bis sie es mit rauhem Zellstoff abgewischt haben. Obwohl das Gerät mir mein Innenleben zeigen konnte, blieb es mir immer merkwürdig fremd und fern. Es hat sich nie angefühlt als würde ich meine Niere sehen können.
Und doch hat genau dieses Bild meine ersten Momente auf der Welt geprägt.
Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass dieses Bild meine ständige Begleiterin wird. Meine neue Gefährtin.
Die Gefährtin beeinflusst meine Selbstwahrnehmung und den Blick der Anderen auf meinen Körper. Sie beeinflusst meine Emotionen. Freude und Traurigkeit.
Sie beeinflusst die Wahl meiner Medikamente. Meine Gefährtin – die Magnetresonanztomographie oder auch MRT genannt. Doch wer ist diese neue Gefährtin? Inwiefern verändert ihr Blick meinen Blick? Macht ihr Blick mich krank?
Das Bild fühlte sich fremd an und doch sprach es zu mir. Es machte sich ganz groß und erdrückte mich. Ich versank im gepolsterten Stuhl, der sich plötzlich sehr hart anfühlte. Ich versuchte Parallelen zwischen mir und der Abbildung zu finden. Gleicht meine Kopfform der Abbildung? Ist das die Form meiner Nase? Meines Mundes? Bin ich das? Sie zeigte auf kleine weiße Punkte. Das seien Narben in meinem Kopf. Sie sahen aus wie Sterne. Ich kann die Sterne nicht spüren. Das Bild ist ein Bild und mein Gefühl etwas anderes. Das Ultraschallbild hatte etwas gesehen, was meine Mutter nicht sehen konnte und sie wusste nicht, was das Bild nun sagte. Ich frage mich, was sie dann mit mir getan haben. Ein neues Ultraschallbild, auf dem sie meine Organe besser sehen konnten? Haben sie ein neues Bild von mir angeschaut oder mich? Am Ende kam heraus, dass meine Niere nur anders geformt ist, aber einwandfrei funktioniert. Ihr Bild sah nur anders aus.
Ich verließ das Krankenhaus und fand ein anderes Ich vor. Die Sterne auf dem Bild gaben mir einen neuen Namen. Ein Name, den ich mir mit anderen teile, die meine persönliche Geschichte zu einer von vielen macht. Das Bild macht möglich, mich als chronisch krank zu erzählen. Meine Diagnose ist einer meiner neuen Namen, den nicht alle kennen. Ich will ihn noch für mich behalten.
Drei Wochen im Bauch meiner Mutter habe ich verloren. Von der Geburt erzählt sie mir immer noch manchmal, wie man sich in Familien eben Geburtsgeschichten erzählt. Es war kein gutes Erlebnis für sie, auch nachdem ich schon da war. Meine Mutter auf der Suche nach ihrem neugeborenen Kind. Wahrscheinlich war sie nie weit von mir entfernt, aber wer kann das schon sagen mit Gängen und Türen und Treppenaufgängen zwischen uns. Der Abstand ist gefühlt. Sie hat das Krankenhaus am nächsten Tag direkt verlassen und meine Schwester wurde vier Jahre später in der Badewanne unserer damaligen Wohnung geboren.
Heilung in Verbindung, Heilung im Miteinander, in Beziehung, in Berührung. Aushandeln. Was für eine Welt? Was für eine Zeit? Und was für ein Leben? Welches Leben? Heilung besteht aus vielen Fragen, auf die es keine endgültige Antwort gibt. Gesundheit ist Bewegung. Krankheit ist Starre. Heilung ist das Dazwischen. Heilung nicht um ‘gesund’ zu werden. Heilung als ein bewusstes in-der-Welt sein mit Geist und Körper und in Verbindung mit der Welt.
Ich schließe die Augen und versuche dem keine Bedeutung zu geben. “Das sind alles nur Momentaufnahmen” sagt die Ärztin. Alles ist veränderbar. Der Körper ist in Bewegung.
Text von Emilia Schlosser und Elio.
Erschienen am 30.06.2022 im eigenart magazin